00:00 Uhr -
„Reizende Villen im feinsten italienischen Geschmack, zahllose Lauben, Sommerhäuschen, Wohngebäude, ja selbst den chinesischen Tempeln ähnliche Häuschen erheben sich bunt und gastlich nebeneinander gestellt aus dem Grünen....Eine Hauptstraße führt mitten durch die gleich der Stadt in regelmäßige Felder geteilte Anlage. Doch hat man kaum noch die Mitte erreicht, und ist der Tag gerade ein Sonntag, so tönt aus den grünen Lauben, verschiedener Gärten über die Mauer die schreiende Geige, der leitende brummende Baß, und in munteren ungekünstelten Touren dreht sich der fröhliche Städter im Saale, oder sucht sich auf der Kegelbahn zu belustigen.“
So beschrieb J.G. Rieger 1824 die Neckarstadt (nachzulesen in: "Von der Ersten bis zur Neunzehnten – Die Neckarstadt West –" von Volker Keller). Das sich seit dieser Zeit doch einiges verändert hat, ist ganz offensichtlich. "Doch auch heute noch hat die Neckarstadt so manche Ecke, die es sich zu erkunden lohnt“, so Lothar Mark, MdB, der zu seinem Kulturspaziergang nicht nur „Einheimische“ begrüßen konnte.
Die Feuerwache
Ausgangspunkt der Exkursion war an diesem Sonntag mittag die Alte Feuerwache. Begrüßt von Egbert Rühl, gingen die Kulturspaziergänger in die ehemalige Fahrzeughalle, ein 1912 als Hauptfeuerwache im neobarocken Stil erbautes Gebäude. Seit 1981 ist hier das „Kulturzentrum Alte Feuerwache“ untergebracht und bietet ein interessantes, breit gefächertes Programm an. Als Leiter des Kulturzentrums gab Egbert Rühl einen Überblick über eine typische Woche mit zahlreichen Events und Ausstellungen.
Der herrliche Rundblick von den oberen Turmräumen des Kulturzentrums gab Franziska Cussnick, Vorsitzende des Bürgervereins Neckarstadt, Gelegenheit, auf die Geschichte des Stadtteils einzugehen. "Der Kern der Neckarstadt besteht aus 19 Querstraßen. Die Bürger Mannheims hatten ab 1679 die „Gärten am Plügersgrund“ angelegt und sich hier - in den Neckargärten - erholt. Es wohnten zwar schon um 1860 vorwiegend Berufsgärtner dort, doch die eigentliche Erschließung und Bebauung des Stadtteils fand ab 1872 statt.
Capitol und Messeplatz
Da sich die Arbeiter aus den nahegelegenen Ziegeleien, Brauereien und Fabriken hier ansiedelten, entwickelte sich die Neckarstadt-West zu einem Arbeitervorort.Schon immer war die Neckarstadt eine „rote Hochburg“; in der Nazizeit wurde sie zu einem Zentrum des antifaschistischen Widerstands.
Nächste Station war der alte Messplatz, an dessen Stelle sich früher die Neckarschanze (1788 erbaut) befunden hatte. Diese war zum Schutz vor feindlichen Angriffen vom Neckarufer her gedacht. Nach Anlage des Messplatzes wurden hier Messen und Jahrmärkte veranstaltet, doch der Platz wurde auch für Arbeiterdemonstrationen und als Aufmarschplatz genutzt. Ein kurzer Halt bei der 1999 neu gepflanzten Schillerlinde, und schon ging es weiter zum Capitol. Dort nahm Thorsten Riehle die Kulturspaziergänger in Empfang. Auch im ältesten noch existierenden Kino Mannheims - die technische Ausrüstung ist noch weitgehend vorhanden - gibt es viel zu entdecken. Gebaut wurde das Haus nach einem Entwurf von Paul Darius im Stil der neuen Sachlichkeit. An dieser Stelle in der Waldhofstraße stand ein Volkstheater, das nicht nur als Tanzlokal, sondern ab 1916 auch als Filmbühne diente, das „Colosseum“. Zur Eröffnung des Capitols wurde am 30.12.1927 hier der berühmte Murnau-Film „ Sonnenaufgang“ gezeigt.
Die Sehnsüchte nach fremden Ländern spiegelt sich auch in der Kuppel wider, das Arabische Dorf - ganz in weiß - bildet einen einmaligen Kontrast zum Blau des Hintergrunds und ist bis heute ein absoluter "Hingucker". Heute wird das Capitol vor allem als Veranstaltungs- und Begegnungsort genutzt. Es trägt sehr zu "Bereicherung des Kulturlebens in der Neckarstadt“ bei, betonte Lothar Mark.
Lutherkirche
In der Lutherkirche (erbaut von 1903-1906 vom Großherzoglichen Baurat Hermann Behagel) wartete schon Pfarrer Gerhard Fischer auf die Spaziergänger. Sie wurden musikalisch begrüßt von den Klängen der Voit-Orgel, gespielt von Wolfram Sauer. Nach einer aufwendigen Sanierung ist das architektonisch und klangliche Kleinod wieder mit der ursprünglichen gewaltigen Klangvielfalt aus dem Jahr 1906 ausgestattet. „Eine wunderbare Orgel und ein wichtiger Bestandteil der historischen Musiktradition“, so Mark.
Die Herz-Jesu-Kirche war vorletzter Halt des Kulturspaziergangs durch die Neckarstadt. „Erbaut wurde unsere Kirche von 1902-104“ erzählte Stadtpfarrer Gerhard Huber. "Eingeweiht wurde sie am 24. Mai 1908. Die Mutterkirche der Neckarstadt wurde am 16.04.43 zerstört und in den Jahren 1949-1952 wieder aufgebaut. Das Hauptportal der neuromanischen Kirche wird zur Zeit renoviert." Seit 1873 feiere die Herz-Jesu-Gemeinde regelmäßig Gottesdienste, so Pfarrer Huber, der erste habe am 03.1.1878 in der Laurentius- Notkirche stattgefunden.
Wie auch bei der Lutherkirche hätte es auch hier noch vieles zu sehen gegeben, doch die Zeit drängte und Marianne Marten wartete schon im Bürgerhaus, um hier über den Neumarkt zu berichten. Empfangen wurden die Kulturspaziergänger mit einem Eiskaffee, der bei diesem Sommerwetter richtig gut tat. Das Bürgerhaus liegt am Neumarkt, auf dem dreieckigen Platz befindet sich vor der Neckarschule auch nach der Neugestaltung noch ein historisches Toilettenhäuschen. Ein beliebter Veranstaltungs- und Begegnungsort ist das Bürgerhaus. Im größten Mannheimer Stadtteil können sich an diesem Ort Menschen verschiedenster Nationalitäten treffen und miteinander feiern. „Doch wie lange noch?“, so Marianne Merten, denn die Zukunft, besonders für Abendveranstaltungen, sei angesichts der Klagen von Anwohnern ungewiss. Es wäre schade, so auch Lothar Mark, wenn hier ein Stück pulsierenden und kulturellen Lebens enden würde.
Am Ende des Kulturspaziergangs bedankte sich Lothar Mark bei allen Teilnehmern nicht nur für das Interesse, sondern auch für ihre spontane Spende. Der Lateinamerika-Beauftragte seiner Fraktion sammelt seit geraumer Zeit für zwei Lehrerstellen an einer deutschen Schule in El Alto, Bolivien. Sein Dank galt auch Franziska Cussnick, Egbert Rühl, Thorsten Riehle, Pfarrer Fischer, Stadtpfarrer Huber und Marianne Marten für ihre kurzweiligen Geschichten rund um die Neckarstadt-West.
|